
Sarah Loibls essayistische Reflexion ihrer Lehrintentionen und -erfahrungen bringen zwei wesentliche Koordinaten des Lehr- und Forschungsmodells der grund_schule der künste zum Vorschein. Erstens fordert die Initiierung Ästhetischer Bildung von allen Akteuren, Widerstände zu überwinden und dabei voneinander und miteinander zu lernen. Und zweitens haben in diesen Prozessen künstlerische Arbeitsweisen und Strategien eine fundamentale Bedeutung – auch jenseits der Bildenden Kunst.
(Kirsten Winderlich)
Kinderzeichnung: Feste Form?
23 DIN-A4-Blätter an eine Pinnwand geheftet. Thema: Sonnenuntergang. Sonne ist: 22 gelbe Halbkreise auf rosa bis karminrotem Grund. Horizont: Wasserfarbe. Zwei Bäume. Grüne Blätter, brauner Stamm, Himmel hellblau. Eine Sonne fällt raus. Sie ähnelt einer roten Handkreissäge. Kurzes Glück darüber, dass es manche Kinder auch unter widrigen Bedingungen schaffen. »Wir machen uns die Grundschule zum Material«, so lautet der Ansatz meines Seminars.
»Ich finde es schön, wenn mal irgendwo einfach etwas Schönes hängt«, sagt Wiebke bei unserem ersten Forschungsaufenthalt in einer Grundschule in Berlin Mitte. Sie spricht über ein von Kindern mit Acrylfarbe gemaltes Bild der Moskauer Basilius Kathedrale. Wir sind in der Mensa. Dinge, die für Dinge stehen, sind hier zu sehen: Kirschblüten und Sushi, die polnische Flagge und Pierogi. Für Mosambique gibt es den Schriftzug MOSAMBIQUE sowie eine Palme. Neben der Moskauer Kathedrale einen Samowar mit zwei Teetassen.
»Man muss ja nicht überall nur einen abstrakten roten Punkt malen.« Ich muss mich konzentrieren, um das, was in Wiebkes Aussage eigentlich steckt, auseinanderzuhalten: Um den Gegensatz von abstrakt zu beschreiben, benutzt sie das Wort schön. Etwas Figuratives, im Sinne einer lesbaren Darstellung – zum Beispiel der berühmten Moskauer Kathedrale – wird als schön empfunden. Wiebke findet es schön, etwas Schönes zu sehen. Wenn die Sonne scheint, dann scheint die Sonne? Schule ist, wie Schule ist?
Was liegt diesem Bedürfnis nach Reduktion von Komplexität, nach Verständnis und Verstehbarkeit zugrunde, das sich um Zirkelschlüsse nicht mehr zu scheren scheint?
Die Frage jedenfalls, was die Kinder hier verstehen sollten, spielt in Wiebkes Überlegungen keine Rolle. Wiebke selbst hatte vermutlich noch nicht viele Begegnungen mit bildnerisch-künstlerischen Prozessen, geschweige denn scheint sie diese als Möglichkeit zur (Selbst-)Bildung von Kindern zu betrachten. Und das galt für fast alle Teilnehmenden meines Seminars.
Wie Schule ist, das sollte eine Frage nach dem Tatort sein. Der Besuch dieser Klassenzimmer und Gänge stellte jedoch für fast keine der Anwesenden eine Unterbrechung irgendeiner Kontinuität dar. Mit fortschreitender Zeit geschah vor allem eines: meine Gruppe von 11 angehenden Grundschulpädagoginnen, alle kurz vor dem Eintritt ins Berufsleben, begann sich vor Ort zunehmend mit den vorgefundenen Strukturen des Denkens und Handelns zu identifizieren. Was ich gemeint hatte, in spielerischem Prozess dekonstruieren und schließlich hinter uns lassen zu können, manifestierte sich stattdessen in genau dem Maße der Annäherung vor uns.
Osterdekoration war schlicht süß, Buntes fröhlich, Plastik praktisch. Ohnehin hätten die Lehrkräfte »auch einfach nicht so viel Zeit«.
Wie also konnte ich den Ort Grundschule mit meinen Studierenden dahingehend problematisieren?
»Es geht auch um Geduld, weil uns manchmal gar nicht bewusst ist, auf welche Weise wir Nahrung erhalten.« (Davey 2014, 13)
Auch ich musste begreifen: Damit eine Thematisierung der Ursachen und Bedingungen von Reproduktionsstrukturen möglich werden konnte, mussten diese erst einmal als Problem erkannt werden – dazu würden wir diese selbst noch einmal erfahren müssen. Um den Reproduktionen ein Ende zu setzen, würden wir selbst reproduzieren müssen.
Nora suchte sich das Bild von Laura (Abb. 2) als Ausgangspunkt für eine eigene Arbeit aus. Sie begründete ihre Auswahl damit, dass es sie an ihre eigene Kindheit erinnere, sie sei fasziniert vom Wilden, Bunten und Chaotischen im Bild. In die nächste Seminarstunde brachte sie Schaschlikspieße und ein Nudelsieb mit. Anschließend saß sie stundenlang da und bemalte jeden einzelnen Holzspieß – in strukturierter und kontrollierter Fleißarbeit. Die Diskrepanz zwischen Noras Auswahl, ihren Worten und dem, was sie letzten Endes getan hatte (Abb. 3), war interessant, aber Nora alles andere als bewusst.
Lena schickte mir ein Foto digital aneinander collagierter Aufnahmen von nach Schablone ausgeschnittenen Masken – verziert mit Glitzer und handelsüblichen bunten ›Indianer‹-Federn. Darunter der Schriftzug CARNAVAL DO BRASIL sowie eine Aufnahme vom offenbar ›echten‹ Karneval in Brasilien.
Masken haben einen performativen Charakter. Sie sind eine direkte Einladung zum Spiel. Hier, aufgeklebt, verweigern sie sich jeglichen Handlungen – und jeglichen Handlungsimaginationen. Ein einfaches Blatt Papier und eine Schere hätten Kinder zu freieren, persönlicheren, unerwarteten Formen finden lassen können. Wenn es also nicht um den persönlichen Ausdruck der Kinder ging – worum ging es dann? Um den Karneval in Brasilien? Auch Lena machte anschließend Masken, die sich niemand aufsetzen konnte.
»Kinder finden sich in der Welt zurecht, indem sie so tun, als seien sie Riesen.« (Schaub 2018, 136)


Wie konnte ich meinen Studierenden zu so einem Über-sich-hinaus11Vgl. Alexander Garcia Düttmann (2018, 144): »Etwas schaffen, schöpferisch sein, bedeutet, wie Nietzsche wusste – etwas über sich hinaus schaffen. Lust und Trost der Kunst haben mit diesem Über-sich-hinaus zu tun.« verhelfen? Indem ich mich im Anspruch, das zu können, selbst zur Riesin machte?
Es bedurfte eines Feedbacks, um durch neue Bilder und Erfahrungen die vorhergegangenen begreifbar zu machen und rückwirkend eine kritische Perspektive dazu zu ermöglichen. Was im Wort Feedback angelegt ist: Futter geben, Nahrung. Wie aber könnte eine Intervention hin zu einer Unterbrechung von Kontinuität aussehen, ohne als direkter Angriff auf das Eigene und Richtige zu erscheinen und entsprechenden – auch verständlichen – Widerstand zu evozieren?
Ich musste auf genau die Art und Weise in Bezug zu den in der Grundschule entstandenen Prozessen treten, die ich selbst forderte und den Arbeiten meiner Studierenden nicht nur auf theoretischer, sondern auch auf direkter, materieller Ebene begegnen – in einem individuellen künstlerischen Prozess. Und dieser erfordert auch und vor allem
eine kritische Betrachtung und Neubewertung der eigenen Urteile und Positionen. Wie erfahrungsarm waren die bisher entstandenen Prozesse wirklich gewesen? Ich musste mich selbst als Lernende in diesem Geschehen begreifen. Und so machte auch ich das, was man vielleicht eine ästhetische Erfahrung nennen kann: eine intensive Beschäftigung mit meiner Umgebung.
Vor diesem Hintergrund entwickelte ich für jede meiner elf Studentinnen eine eigene künstlerische Antwort – eine Art ästhetisches Feedback.
Dabei ging ich von folgenden Grundfragen aus:
1. Welche individuellen Momente der Freude, also Interesse, habe ich wahrgenommen?
2. Für wen könnte welche Tätigkeit notwendig werden?
3. Welche Umgebungen musste ich schaffen, um diese spezifischen
Notwendigkeiten zu fördern und auch bewusst zu machen?
4. Wo sollten diese Umgebungen sein – im Umfeld von wem oder was?
5. Welche Entscheidungen wurden schon von wem getroffen? Welche
möglichen Wege wurden nicht gegangen?
Überlegungen, die in der vielleicht wichtigsten Frage münden, die wir uns in künstlerischen Arbeitsprozessen verpflichtet sind zu stellen: Durch welche Widerstände kann ich die größtmögliche Konzentration herstellen?

»Auch ein Gipfel der Ratlosigkeit zeigt Wahrnehmungen – und ihnen entsprechende Erfordernisse.« (Nancy 2018, 13)
Wiebke machte ein umgestürztes Pferd am Fuße eines Berges. Für sie hatte ich nichts als zwei Eimer, einen mit Kleister, den anderen mit Papierschnipseln gefüllt, und eine dazwischen auf den Boden gelegte Postkarte mit der Abbildung eines Werks von Mark Lammert vorbereitet. Irgendwann gab es auf dem Berg eine kleine Kugel. Wiebke, die bis dahin in der Schule gesehene Eierkarton-Raupen nachgebastelt hatte, oft zu spät kam und fast immer die Erste war, die gehen wollte, hatte das Papier-Kleister-Gemisch so lange geknetet, bis es ganz weich wurde. »Ich will, dass es feiner ist.« Wo ich mich in der Auswahl der Postkarte direkt auf die kleine Zunge der Eierkarton-Raupe bezogen hatte, sah Wiebke eine Höhle. Aus dem feuchten Sumpf dieser Höhle heraus schien ihr »Ich finde es schön, wenn einfach irgendwo etwas Schönes hängt« plötzlich sehr weit weg zu sein. Wenn ich auch sonst nicht viel weiß über ihr rätselhaftes Ergebnis, so doch, dass Wiebke hier vielleicht zum ersten Mal auf eine Weise involviert war in einen Prozess (Abb. 3), der direkt mit dem sie umgebenden Material zu tun hatte.
»Was sollen wir tun, ich weiß nicht, was ich tun soll!«,
sagt die Hauptdarstellerin im Film Adieu au langage (Godard 2017) und inauguriert dabei bereits sprachlich-performativ den Abschied von einer problematischen Gemeinschaft. Mit Nora arbeiten hieß: gegen Worte arbeiten. Aber: Gegen Noras Worte zu arbeiten, hatte viel damit zu tun, sie beim Wort zu nehmen. Noras Wort war: Chaos. Es war mir wichtig, dass sie, um ihrem Wort – oder dessen Gegenteil – näherzukommen, einmal wirklich die Kontrolle über ihr Werk verlieren können würde. Wenn Chaos das Gegenteil von Ordnung ist, so auch von gesellschaftlicher. Ich wollte Nora einen Abschied ins Chaos ermöglichen. Ihren Arbeitsort baute ich im Garten auf. Sie bekam große Papierbahnen von mir sowie stark verdünnte, fließende Grundfarben, jedoch keinerlei andere Hilfsmittel – stattdessen das Nudelsieb mit den feinsäuberlich bemalten Holzspießen. (Abb. 4) Es war ihr eigenes Werk als Werkzeug. Das war brutal. Doch Nora trickste mich leichtfüßig aus. Sie dachte nicht daran, ihr eigenes Werk, ihr gespicktes Nudelsieb, durch die Farbe zu ziehen. Sie legte es sorgsam beiseite, brach sich einen Ast vom Baum und begann mit diesem Pinsel, Farbe über das Papier zu ziehen. Dann zog sie die Schuhe aus und tanzte auf dem Papier (Abb. 1).
»Auf dem Meeresgrund ist’s bunter.« (Rist 1988)

Für Lena wählte ich Volumen. Genauer: Ein Kostüm des Künstlers Knut Klaßen aus der von ihm realisierten Performance: Viereck:Arbeiter/ Kreis:Klassenfeind. Als dieses Kostüm als eines von acht am Abend des 11.11.2017 getragen wurde, merkten die Performer schnell: zu starke Bewegung würde zu Rissen führen und die Inhalte in ihrer Les-und Sichtbarkeit gefährden. Sie standen daraufhin recht still. Lena thematisierte auf sensible und unmittelbare Art und Weise genau das: bald hüpfte sie auf einem vielfach gefalteten Paket herum. Als die kleinstmögliche Faltung erreicht war, malte sie einige wenige Buchstaben aus. Schließlich begann sie, das Kostüm auf seine Tragemöglichkeiten hin zu befragen. Lena zog vor den Spiegel. Sie steckte mit den Füßen in den Armlöchern. Irgendwann war das Kostüm mehr Loch als Substanz und damit erneut ein Stillstand erreicht. Lena begann sich in ihrem vom Überwinden und Hervorbringen von Materialgrenzen geprägten Prozess nun konsequenterweise auf die Löcher zu konzentrieren. Sie überlegte, welche der Öffnungen sie behalten wolle. Und welche nicht. Durch einen einzelnen Materialimpuls war sie in die Lage versetzt, sich ihre gesamte Seminarstunde selbst sinnvoll zu schneidern. Sie war dabei, sich ein Stück Welt so anzueignen, dass es für genau ihren Körper passte.
Nikolai Tschernyschewskis 1863 veröffentlichter Roman Was tun? hatte Lenin stark beeindruckt; er sagte angeblich: stark »bearbeitet« (Nancy 2017, 58). Sich von etwas bearbeiten lassen, ist ein extrem aktiver Prozess. Im selben Maße, wie Lena das Material bearbeitete, bearbeitete dieses wiederum sie.
Materialgefechte sind welche, in denen wir alles dürfen, ohne Gefahr zu laufen, jemand anderem dabei zu schaden. Am Ende von Lenas Gefecht steht eine widerständige, subversive Erkenntnis: »Wenn ich für diese Hand zwei Löcher lasse, dann kann man sie raus und wieder rein stecken. Das heißt, an diesem Tag nicht arbeiten zu müssen.«
Was nicht tun? Das war in Lenas Fall also die immanente und entscheidende Gegenfrage zu Was tun? Und auch in ihr, wie in Lenas Bewegungen selbst, steckte eine erhebliche Kraft der Zerstörung – Zerstörung von Kontinuität. (Abb. 6)
»Also gut, fangen wir an.« (Nancy 2017, 7)
Die Reproduktion der vorgefundenen Welt hatte eine Selbstermächtigung ermöglicht, weil und indem die theoretischen Strukturen selbst als Material erfahrbar wurden. Was anfangs nur von mir als leer empfunden wurde, konnte durch Materialisierung als Problem wahrgenommen

werden. Um jedoch aus dieser problematischen Leere22Die Leere ist hier auch als Freiraum begriffen. Oder: Der Raum,in dem jetzt Konflikt erst möglich werden kann. heraus zu eigener Aktivität in Denken und Handeln, zu eigenen ästhetischen Erfahrungen und Erkenntnissen zu kommen, bedurfte es in einem weiteren Schritt einer Anregung von außen. Wenn es schließlich eine neue Bewertung des Vergangenen geben konnte, in deren Logik das, was erst als offensichtliche Sackgasse erschien, nachträglich notwendig und wichtig geworden war, dann war diese neue Deutung aber nur möglich, weil ich mich selbst in einer enthierarchisierten praktischen Auseinandersetzung ins Spiel gebracht hatte. Erst die kritische Auseinandersetzung mit auch eigenen vorschnellen Gewissheiten eröffnete uns Möglichkeiten dazu, gemeinsam in eine Distanz zu Schule treten zu können. Über diese Distanzierung konnte Schule zum Material werden. Und die Materialisierung von Reproduktionsstrukturen zu einem für meine Studierenden für den Kunstunterricht an Grundschulen potenziell übertragbaren pädagogischen Konzept. Eines, das dazu beitragen könnte, günstigere Voraussetzungen für eine Nachahmung mit Transformationspotenzial zu schaffen – und bessere Umstände für mehr rote Handkreissägen.
Zumindest lassen mich die überraschenden und vielfältigen Ergebnisse der Studierenden meines Seminars in dieser Richtung hoffen.
»Ich heiße somit Doris und bin getauft und christlich und geboren.«
(Keun 1932, 12)
Abbildungen
Fotos: Dominik Dittberner
4: Postkarte von Mark Lammert, 2009, ohne Titel (Lettre V), Öl auf Papier, Postkartenedition Lettre International
6: von einer Studentin bearbeitetes Papierkleid von Gintersdorfer/Klaßen, 2018, eins von acht aus der Serie: Viereck: Arbeiter, Kreis: Klassenfeind
Literatur
Davey, Moyra (2014): Burn the diaries. Wien: Museum Moderner Kunst Stiftung Wien (u.a.)
Düttmann, Alexander Garcia (2018): Das Denken der Kunst ist ein Denken des Körpers. In: Kunstforum International, April bis Mai 2018, 140–145
Keun, Irmgard (1932): Das kunstseidene Mädchen. Berlin
Nancy, Jean-Luc (2017): Was tun? Berlin
Schaub, Mirjam (2018): Kunst meint, etwas, fast nichts, zum Anlass zu nehmen. In: Kunstforum International, April bis Mai 2018, 136–139
Weitere zitierte Medien
Godard, Jean-Luc (2014): Adieu au langage (Blu-Ray 3D + Blu Ray), Frankreich, Schweiz: S. I. Studio Canal
Rist, Pipilotti (1988): (Entlastungen) Pipilottis Fehler (Video), Schweiz: Atelier Rist Sisters